„Aufi, 's Vieh sammla!“

Aussteigen auf Zeit - Ein Sommer auf der Sennalpe Ornach im Oberallgäu
Von Frank Heinzl

Den Motorradhelm für 3 Monate an den Nagel gehängt, das hat mein Freund Frank tatsächlich gemacht, um einmal einen kompletten Tapetenwechsel zu zelebrieren. Waren wir noch kurz zuvor auf zwei Rädern durch das Oberallgäu gefahren, wählte sich Frank Heinzl unweit der höchsten Passstraße Deutschlands die dortigen ‚Hörnerdörfer‘ für den Ausstieg auf Zeit. Berichtenswert, wie man sich dort als Biker und Büroarbeiter vom Alltag erholt.

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_Frank Heinzl

Ohne meinen Morgenkaffee geht gar nichts – das war einmal. Inzwischen brauche ich morgens zuallererst Frischluft und Bewegung. Nicht, weil ich meinen Schreibtisch-Job aufgegeben habe und unter die Fitnessfreaks gegangen bin, sondern weil mich ein Sommer auf der Alpe prägen sollte.

Aber von vorne. Als typischer Städter fehlte es mir eigentlich an nichts und doch plötzlich irgendetwas. Na ja, eigentlich. Das tägliche Einerlei, die „Hektomatik“ der Großstadt zehrte doch an meinem Seelenfrieden.

Und so krabbelte er plötzlich aus meinem Unterbewussten hervor, der irre Gedanke ans Aussteigen – aber auf Zeit natürlich. Schließlich muss man ja seinen Lebensunterhalt auch noch verdienen und Freundschaften lässt man auch nicht mir nichts dir nichts im Stich.

Dass ich just in diesem Augenblick am Kaffeetisch bei Freunden im Oberallgäu saß, mag Zufall sein - oder ein Hauch von Schicksal. Auf jeden Fall nahm mein Aussteigersommer noch am selben Wochenende konkrete Formen an. Mehrere Telefonate, ein Besuch im Bergdorf Bolsterlang, ein Handschlag und schon stand fest: Ab Juni würde ich zusammen mit Marion und Mathias Martin, deren frisch geborenem Söhnchen Tobias und einem Hirten, einen Sommer auf der Alpe Ornach, unterhalb der Hörnerbahn-Mittelstation, verbringen. Senn auf Zeit - das klang für mich urig, ein bisschen verrückt und: sehr verlockend.

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Zumindest, bis Senn Mathias Martin am ersten Morgen auf der Alpe unbarmherzig an meine Tür pochte. „Aufi, s`Vieh sammla!“, schallte es durchs Holz. Ich traute weder meinen Ohren, geschweige denn meinen Augen. Mein Wecker signalisierte mir 4.45 Uhr und draußen war‘s noch fast stockdunkel. Erst zweieinhalb Stunden später hielt ich die erste Tasse Kaffee in Händen – nach 40 „eingesammelten“ Kühen, verteilt auf knapp 30 Hektar, nach 250 Höhenmetern im viel zu steilen Gelände und nach viel Schweiß sowie einer dicken Blase an der Ferse. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir nicht mehr sicher, ob mir der Sommer im klimatisierten Büro nicht besser behagt hätte.

Hätte er nicht. Das sage ich inzwischen aus tiefstem Herzen. Denn schon nach wenigen Tagen war ich es, der dem morgendlichen „Vieh sammla!“ schier entgegenfieberte – dem wattebauschigen Morgennebel auf den Weiden, dem kitschig-schönen Morgenrot über den Bergen. Der Stille ohne Autolärm und der würzig-schweren Bergluft, die mich Städter das echte, tiefe Atmen erst lehren sollte.

600 Liter Milch am Tag werden zu Buttermilch, Trinkjoghurt, Quark, Fassbutter und Käse verarbeitet.

Und noch etwas lernte ich bald: Ich erfuhr, wie Essen schmecken muss. Nicht jenes eingeschweißte aus dem Supermarkt, sondern grundehrliche, frische Produkte. Denn: Auf der Alpe Ornach werden nicht nur 600 Liter Milch am Tag zu Buttermilch, Trinkjoghurt, Quark, Fassbutter und preisgekröntem Käse verarbeitet - Berg- und Alpkäse, Schnittkäse, Kräuterkäse. Zur Sennalpe auf 1.350 Metern Höhe gehören Hühner, rund 20 Schweine und Ziegen. Und schier Unmengen an Blaubeeren wachsen an den Berghängen. Da gab es also täglich frisch gelegte Frühstückseier statt Eier aus den Legebatterien, oder Cornflakes, dafür würzigen Bergkäse, Schinken, Speck sowie Landjäger von den „eigenen“ Tieren und Marions grandiosen Blaubeerkuchen. Den backt sie zur Hochsaison jeden Morgen, denn: Zur Alpe gehören eine Sonnenterrasse und eine Gaststube. Täglich schauen Wanderer zu Kaffee, Kuchen, Brotzeit oder einem Glas frischer Milch vorbei. Kurzum: In den Monaten auf der Alpe habe ich mich zum echten Genießer entwickelt und weiß jetzt, was gute Lebensmittel wert sind.

Auch, weil ich Senn Mathias regelmäßig in der Sennerei und im Käsekeller zur Hand gehen durfte. Zugegeben, der säuerliche Geruch dort war für mich gewöhnungsbedürftiger als mein ständiges „Stallparfum“. Das Grundhandwerk des Senns kannte ich bald, Käse war für mich nun mehr als ein Produkt in der Frischetheke - Lab und Kultur, Molke und Käsebruch waren keine Fremdworte mehr. Vor allem beim Käseschmieren - also der Pflege des reifenden Käselaibes - war ich gern dabei. Auch wenn es echte Männerarbeit ist, die bis zu 15 Kilo schweren Stücke aus den Regalen zu heben und zu wenden. Hier lag der eigenen Hände Werk in gelbbraun schimmernden Rädern sichtbar vor Augen. Edlen Käse, wie jenen von Mathias Martin, kreiert nur, wer mit Liebe, Leidenschaft, Zeit, Wissen und Erfahrung an das alte Handwerk rangeht.

70 Hektar Weide gehören zur Genossenschaftsalpe Ornach – und so ging es bei fast jedem Wetter zudem raus in die Natur. Denn: Ohne eine entsprechende Pflege würden Weiden schnell verwachsen, das grüne Allgäu wäre bald nicht mehr so grün, wie es die Urlauber kennen und lieben. Für mich bedeutete dies: Weiden mähen, Unkraut jäten, Steine wegräumen, Kuhfladen auf den Wiesen verteilen, Brennholz hacken, zwei Mal am Tag „s`Vieh sammla gehen“, melken sowie Ställe ausmisten und natürlich Käsen. Kurzum: Zwölf bis 14 Stunden umfassten meine Arbeitstage, geschlafen habe ich, soweit ich mich erinnern kann, in meinem Leben noch nie so gut, wie auf der Alpe Ornach.

Mein Sommer auf der Alpe war hart, keine Frage. Ich kenne jetzt Muskeln, die ich in meinem Körper nicht vermutet hätte. Trotzdem werde ich vielleicht ich in ein, zwei Jahren noch einmal den Schreibtisch im Stich lassen und die Bergstiefel packen. Denn der Lohn meines Alpsommers war für mich immens: Enzian, Silberdisteln und Alpenrosen vor grandioser Bergkulisse, der weite Blick ins Illertal, das Rehkitz auf der Lichtung, der kreisende Steinadler, die deftige Brotzeit in der Abenddämmerung. Selbst das Schweinderl Felix, das mir so ans Herz wuchs. Ich habe wieder jene innere Gelassenheit gewonnen und das Gefühl, mitten in der Natur einen Sommer lang einfach glücklich gewesen zu sein. Mein Motto als Fazit: „Burnout? Come out! – und wenn es nur für einige Tage ist“. 

Mathias Martin: Erst anschauen, dann riechen, dann schmecken …

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Wolle man einen Käse bewerten, wie es die deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) tut, müsste man sich zuerst mit den Kriterien auskennen: es geht um äußeres Aussehen, inneres Aussehen, Geruch, Aroma und Konsistenz. Alles wir mit maximal fünf Punkten pro Kategorie bewertet  - die Punktzahl Aroma wird anschließend mit dem Faktor zwei multipliziert. Einer der letztjährigen  Goldmedaillengewinner war dabei erneut Käsemeister Mathias Martin von der Alpe Ornach unterhalb der Hörnerbahn.

600 Liter Milch am Tag werden hier täglich zu Buttermilch, Trinkjoghurt, Quark, Fassbutter und preisgekröntem Käse verarbeitet - Berg- und Alpkäse, Schnittkäse, Kräuterkäse. 600 Liter Milch bei 40 Kühen sind laut dem Bolsterlanger eher wenig, doch füttere er nur die nötigste Menge an Kraftfutter zu, um seine Tiere mit ausreichend Nährstoffen zu versorgen. Wenn er wollte, könnte er die Milchmenge mittels mehr Kraftfutter verdoppeln – allerdings auf Kosten der Qualität. „Das ist eine Prinzipiensache“, wie er meint und „Vieles ist Gefühlssache, oft entscheide ich aus dem Bauch heraus, anders kann ich’s auch nicht beschreiben.“

Die Schwierigkeit dabei: Laibe werden als Ganze eingereicht. Damit ist das äußere Aussehen für den Senn das einzige Kriterium, das er selbst vorab offensichtlich bewerten kann. Gold-gelb bis bräunlich schattiert soll ein Käselaib laut Juror Johann Peschek aussehen, geschlossen sein und möglichst gleichmäßig geformt. Die Rinde darf nicht zu weich, aber auch nicht zu hart sein. Ein KO-Kriterium sind Schimmelflecken. „Ganz wichtig sind deshalb die Verhältnisse im Käsekeller“, erklärt Mathias Martin.

Sein Gewölbe hat der 33-Jährige deshalb entsprechend herrichten lassen: 95 Prozent Luftfeuchtigkeit, konstante 15 Grad Celsius und eine ständige Luftumwälzung ermöglichen eine optimale Lagerung und Reifung. Hinzu kommt eine entsprechende Pflege – zwei Monate lang schmiert er seinen Käse täglich mit Salzwasser, später dann alle zehn bis 14 Tage. Im Winter bedeutet dies für ihn: Mit Tourenski geht es auf die Genossenschaftsalpe auf 1350 Metern Höhe. Jungen Käse, der noch täglich geschmiert werden muss, nimmt er hingegen am Ende des Alpsommers mit ins Tal.

Das zweite Bewertungskriterium, das innere Aussehen des Käses, bezeichnet er als das Problematischste. „Wir dürfen vorab nicht in den Käse hineinschauen – nur über Abklopfen können wir prüfen, ob er innen in Ordnung ist.“ In Ordnung bedeutet dabei laut Peschek: Einen Käse sollten vereinzelte, nusskerngroße Löcher zieren. Und die gelangen übrigens während der Reifung in den Käse: Während die Milchsäurebakterien arbeiten, bilden sich Gase, die durch die Rindenbildung nicht mehr entweichen können – stattdessen entstehen Hohlräume. Mathias Martin veranschaulicht mit einem Augenzwinkern: „Die Löcher sind damit also der Furz des Käses.“ Fehlten Sie, spreche man von „blindem“ Käse. Schlecht seien Risse – im Volksmund sei dann die Rede von Gläs oder Spicken. Eine Rolle spielt zudem ein geschlossenes, einfarbiges inneres Bild.

Auch seinen aromatischen Geruch erlangt Käse erst beim Reifen – je älter, desto pikanter, weil die Bakterien länger arbeiten konnten. Leichter, frischer Keller- und Rotschmiere-Geruch sind dabei laut Mathias Martin typisch für Bergkäse - schlecht indes sei, wenn er muffig oder fischig rieche, ergänzt Peschek.

„Jede Alpe hat ihren unverwechselbaren Geschmack, schließlich wachsen dort jeden Sommer ähnliche Kräuter – und die geben einem Bergkäse sein unverwechselbares Aroma“, wechselt Mathias zum wichtigsten Bewertungskriterium. Nussig, würzig, pikant und eine leichte Bitternote sprechen dabei laut Peschek für ein gutes Produkt. Auch eine rauchige Geschmacksnote werde bei Bergkäse nicht als Fehler gewertet, schließlich arbeite manche Sennalpe bis heute mit offenem Feuer. Schlecht allerdings sei, wenn ein Käse statt pikant, beißend schmecke. Metallisch oder süß im Nachgeschmack, führen ebenfalls zum Punktabzug.

Letztes Kriterium: die Konsistenz. Nicht mehlig solle sich der Käse anfühlen, aber auch nicht zu weich. Auch dies kann der Senn erst nachprüfen, wenn der Laib angeschnitten ist. Deshalb beobachtet Mathias Martin die Masse schon beim Käsen ganz genau. Sei sie nicht brüchig oder rissig, aber auch nicht patzig, stünden die Chancen auf eine schöne Konsistenz gut.

Dass bei der Bewertung eines guten Bergkäses nicht nur Geruch und Geschmack zählen, hält Juror Peschek übrigens für völlig richtig: „Das Auge isst nun mal mit, wir wollen bei den Prämierungen, dass nur ein Bilderbuchkäse Gold gewinnt.“ Senn Martin indes freut sich zwar über jede neue Auszeichnung, ist aber vor allem angetan, wenn sein Käse die Höchstpunktzahl für den Geschmack erhält. Denn: Vor allem will er, dass es seinen Kunden und den Besuchern auf der Alpe Ornach schmeckt.

DOKUMENTATION

Gäste der Region Oberallgäu haben im Sommer 2012 die Chance „Ein Tag als Senn auf Zeit“ zu sein. Man bucht zur gewünschten Unterkunft, vom Privatquartier (ab ca. 25 € p. P. bis zum Fünf-Sterne-Luxushotel), das Tages-Paket „Senn auf Zeit“ hinzu. Dann geht es exklusiv einen ganzen Tag lang mit dem Landwirtschaftsmeister Andreas Nußbaumer zum „Ausbildungsprogramm Senn auf Zeit“ zuerst in seinen Stall und dann per Bergbahn auf die Alpe. Auf dem Stundenplan stehen Vieh einsammeln, Melken, Mähen, Bergkäse-Zubereitung. Eben alle Tätigkeiten eines Hirten und Senn, mit fachlicher Anleitung und einer anschließenden zünftigen Brotzeit auf der Alp, wie Almen im Allgäuer Sprachgebrauch heißen. Den Exklusivtransfer mit dem Naturpark-Bus, eine Bergbahnfahrt, das Tagesprogramm mit Bergkäserei lassen die bis zu acht Teilnehmer abends bei einem urigen Kässpatzenessen auf der Hütte ausklingen.

Die Alternative dazu ist „Abenteuer gefällig?“ Diese Frage steht vor der Bewerbung zum „Senn auf Zeit“. Mit etwas Glück lebt man diesen Sommer fünf Tage exklusiv das Leben eines Alphirten oder einer Alphirtin, als Gast einer traditionellen Sennalpe.

ANREISE

INFOS & Buchung

Bildnachweis: Hörnerdörfer Tourismus, Andreas Durst, Markus Golletz