Wahrheit ist eine Funktion sozialer Übereinkunft
Rezension: Handeln statt Hoffen | Lass uns mit den Toten tanzen
Wie Pia Klemp ist Carola Rakete Klima-Aktivistin, Sea-Watch Kapitänen und aus Überzeugung ohne festen Wohnsitz. Beide sind Kapitalismus-Kritikerinnen, denn die Klimakatastrophe verlangt konsequentes und baldiges Handeln. Menschen in Not aus dem Meer zu retten ist nur eine folgerichtige Konsequenz.
Betrachtet man den Wandel in den Gesinnungen zum Thema Seenotrettung, wird einen ganz mulmig. Was ist nur los mit der Spezie Mensch, warum ist sich selbst im reichen Europa während der Klimakrise nur jeder selbst der nächste?
Steter Tropfen höhlt den Stein
In Italien folgt auf die langjährige Berlusconi-Ära die Salvini Episode mit Lega und 5-Stelle. So hat sich auch im Mittelmeeranrainerland Italien der populistische Mainstream ausgebreitet. Wo früher eine glorreiche Rettungsmission Mare Nostrum von der italienischen Küstenwache durchgeführt wurde, blickt man heute auf ein eingeschüchtertes Häufchen von Küstenwachen-Beamten, denen per Dekret verboten wurde Menschen zu retten, ja sogar elementare Menschenrechte zu missachten. Viele Beamte handelten opportun, nur um dem postfaschistischen Innenminister Matteo Salvini (2019 ital. Innenminister, derzeit Vorsitzender der Lega) zu gefallen.
Man braucht diesbezüglich erst gar nicht bis an ans Mittelmeer zu schauen, der fremdenfeindliche Populismus hat Europa in Teilen schon stark vereinnahmt. Auch in Deutschland ticken zumindest AFD-Wähler und die rechten Flügel der 'Volksparteien' ähnlich: Klimakrise? wird verleugnet. Mein Wohlstand — nur für mich! EU-Außengrenzen? Jetzt schnell hochmauern!
Es gibt kein richtiges Leben im falschen (Theodor W. Adorno)
Carola Raketes Buch ist kurzweilig und eindringlich, sie fasst in Handeln statt hoffen nicht nur autobiografisch die Erlebnisse auf der Sea-Watch zusammen, die sie wegen ihrer Courage berühmt machten. Vielmehr geht es um Textmontagen, die zum einen aus den Vorgänge an Bord vor Lampedusa und zusätzlich aus politischen Handlungs-Imperativen bestehen, die Evidenz und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen sollen. Menschenleben retten, das tut Carola Rackete nicht nur aus reiner Menschlichkeit, sondern weil es ein grundsätzliches Gebot ist, das nicht nur Klima-Aktivisten betrifft.
Carola Rakete 2020, Quelle: CC BY-SA 4.0
Sie nennt die Dinge beim Namen: Globale-Gerechtigkeit-Krise statt ‘Flüchtlingskrise’, Klimakatastrophe statt ‘Klimawandel’. Ihre Thesen werden immer wieder kurzweilig belegt, durch die Szenen, die sie und die Sea-Watch 3 Crew im Sommer 2019 zwischen Libyen und Italien erleben mussten: Küstenwache-Beamte, die vor Salvini kuschten und das ‘Pseudo-’ Recht in Italien, das die Rettung Schiffbrüchiger kriminalisiert.
Erfolgreich entkräftet sie Argumente der Schlepperei und der angeblich sicheren Häfen in Nordafrika. In Tunesien dürfen Rettungsschiffe nicht einmal tanken, Malta blockt ganz gerne ab und in Libyen, dem wichtigsten Transitland für Flüchtlinge in Afrika, schlossen Nationalstaaten und die EU-Abkommen zur Flüchtlingsabwehr mit militanten Verbrechern. Das scheint ende 2019 sogar im deutschen Bundestag angekommen zu sein, in Italien war das im Sommer noch nicht der Fall, das Abkommen wurde für 3 Jahre verlängert. Wirkungslos sind bisher viele Maßnahmen, wie das ‘Klimapaket’ das vor allem europäischen Wohlstand bewahren soll, ohne Abstriche beim Wachstum zu machen. Das kann nicht funktionieren.
Nach Käpt’n Rackete sind wir erst am Anfang der Flucht vor Klimakatastrophen. Da taucht auch schon das nächste Problem auf. Recht auf Asyl haben in manchen europäischen Ländern, wer als Person politisch verfolgt wird - im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Das man aufgrund von Klimakatastrophen flüchten muss, ist dort bisher nicht aufgezählt, wird aber an Bedeutung gewinnen.
Das Buch beginnt zunächst wie eine Biografie, ähnlich eines Aufsatzes. Dann steigert sich Kapitänen Rackete zu einer Person, die Ideen hat, wie die Welt verändert werden müsste. Handeln statt hoffen ist auch das Credo des Buches, Carola Rackete ist zwar keine Freundin des Genderns oder Frauenrechtlerin, für sie schließt sich der Kreis als Klima-Aktivistin.Ihr Engagement auf See hängt mit der Klimakatastrophe untrennbar zusammen: Gerettete fliehen immer häufiger vor nicht mehr lebenswerten Bedingungen in ihren Heimatländern. Die sind immer häufiger klimatischer Natur oder aus Gründen der früheren kolonialen Ausbeutung entstanden. Die Bedingungen gerade in Afrika haben sich durch den Menschen-gemachten Klimawandel dramatisch verschlechtert. Stellvertreter-Kriege wie in Syrien sind die zweite Ursache für massenhafte Flucht. Darum geht es der Autorin im Kern, auch um unser Leben und unseren Konsum, dessen Auswirkungen man auf hoher See erleben kann.
Verteilungskämpfe statt Solidarität – Krise der globalen Gerechtigkeit
Es geht um Gerechtigkeit, laut Carola Rackete stehen in dieser Krise europäische Werte auf dem Spiel. „Wir müssen Migration neu definieren – als festen Bestandteil menschlichen Lebens”, sagt sie und ihr Engagement auf dem Meer kann man auf die eigentlich einfach zu beantwortende Frage reduzieren: Wollen wir Menschen, die unsere Hilfe brauchen, sterben lassen oder sie retten?
Wird es gelingen, im fossilen Kapitalismus neoliberaler Prägung, das Wachstum vom Ressourcenverbrauch relativ und absolut zu entkoppeln? Nicht nur Rackete auch Luisa Neubauer sieht das in ihrem Buch „Vom Ende der Klimakrise: Eine Geschichte unserer Zukunft” nicht als gesetzt. Vielmehr wird das Kapitalismus immanente Wachstum als Krisenursache gesehen.
Kein Mensch wird als Migrant geboren
Müssen Migranten immer profitabel sein? Hat es Migration nicht immer schon gegeben? Und gibt es durch sie nicht viel mehr interkulturellen Ideenaustausch? Tatsache ist auch, dass der Geldsendungen, den Migranten durch ihre Zahlungen in die Heimat bringen, die Summe der Entwicklungshilfe bei weitem übersteigt.
Eine Umweltpolitik sollte noch viel mehr nach dem Vorsorgeprinzip handeln, die aus Risikovorsorge und Ressourcen-Vorsorge besteht. Sie muss nicht nur in unserem Einflussgebiet im Interesse künftiger Generationen erhalten bleiben, sondern weltweit.
Kippmomente haben längst eingesetzt, die Nachrichtensendungen sind voll von Katastrophen, sie von schnellen klimatischen Änderungen herrühren. 5 % der 7,6 Milliarden Menschen verbrauchen 25 % der Ressourcen, 20 % aller Menschen verbrauchen 80 % der Energie. Die Erde ist überlastet. Wenn alle nur das verbrauchen würden, was ihnen mengenmäßig zusteht, dann hätte Katar bereits am 11.2., Deutschland am 3. Mai, und Indonesien 18.12. eines Jahres die Ressourcen aufgebraucht.
Gesellschaftlich erlangen wir derzeit paradoxerweise einen Demokratieverlust durch Wahlen. Eine Destabilisierung angesichts der Klimakrise findet durch deren Verleugnung und des erstarken rechten Gedankenguts (in diesem Falle durch Abstreiten vom Menschen gemachten Klimawandel) statt.
Rackete richtet sich frontal und direkt an die Leserinnen und Leser und appelliert an ihr Gewissen. Die Zeit drängt.
- Empfehlung der Autorin: Peng! Kollektiv
Carola Rackete spendet die Erlöse aus diesem Buch an den Verein Borderline-Europe – Menschenrechte ohne Grenzen e. V.
Pia Klemp: Lass uns mit den Toten Tanzen
Pia Klemp ist nicht so ‘berühmt’ geworden wie Carola Rackete, man kann aber annehmen, dass sich beide gut kennen. Wegen der Beschlagnahme des Sea-Watch Schiffes hatte Pia Klemp entstand Zeit, dieses Buch zu schreiben: Es beginnt mit den immer wieder neu zusammengestellten Crews, 'aus Hippies, Punks und Weltverbesserern'.
»Kakophonie des Dilettantismus« (Klemp bei einer Rettungsübung)
Pia Klemp ist Biologin und ehrenamtliche Kapitänin der Sea-Watch 3, später auch der Luventa. Der Roman beginnt in einem Küstenort in Libyen, in dem Pia Klemp die volle Verachtung gegenüber hilflosen Flüchtlingen einfängt. Folter, Vergewaltigung, Machtmissbrauch, all das scheint Realität in Nordafrikanischen ‘Auffanglagern’. Das wissen auch die Offiziellen hierzulande. Scheinheilig, dann von ‘sicheren Häfen’ zu sprechen, wenn man die Verhältnisse nicht kennt oder nicht kennen will.
Ausgangsposition ist auch das Jahr 2019, in dem Europa quasi alle Rettungsmissionen eingestellt hat und nur privat organisierte NGOs auf den Flüchtlingsrouten unterwegs sind. Pia Klemp beschreibt detailliert und emotional die schnelle Einweisung der neuen Crew (daher das Zitat Kakophonie des Dilettantismus …) und was dann folgte: Die Kommunikation mit Libyscher und italienischer Küstenwache, die immer wieder Überraschtheit, wenn sich ein Miss-Captain über Funk meldet und kein ‚richtiger Mann‘ am Steuer ist. Später dann die Falle, in die die Rettungsschiffe von offizieller Seite gelockt werden: Die Küstenwache ruft das Rettungsboot ab, mit dem Hinweis auf einen Notfall fernab des Suchgebietes. Dort wird man dann eingekreist und das Rettungsschiff wird beschlagnahmt. Alles Legitim? Auch das hat die Lega in Italien möglich gemacht.
Sea-Watch 3 (Quelle: Wikipedia)
Ein Foto der toten 2-jährigen Alan Kurdi wurde zum Symbol für die humanitäre Notlage und ging im Sommer 2015 um die Welt. Sein Vater, war der einzige Überlebende der Familie. Er musste mit ansehen, wie seine Frau und seine beiden Kinder ertranken, lieber wäre er gestorben, sagt er heute.
Wandgemälde im Frankfurter Osthafen (Wikipedia)
Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Grenzen
Worum es sonst noch geht? Nur wenige Schiffe der zivilen Seenotrettung patrouillieren noch im Mittelmeer. Sie kämpfen tagtäglich uneingeschränkt für die Einhaltung der universellen Menschenrechte und gegen menschenverachtende Politik. Sie retten Leben, soweit es ihnen möglich ist.
Pia Klemp war Kapitänin bei mehreren Rettungseinsätzen und konnte so etliche Katastrophen verhindern und viele Leben retten. Aber auch sie musste mit ansehen, wie Menschen vor ihren Augen ertranken. Für viele der Aktionen findet man Videobelege im Internet.
Pia Klemp hat mit ihren Besatzungen über 1000 Menschenleben gerettet. Vor dem sicheren Ertrinken. Trotzdem (oder gerade deshalb) laufen immer noch Ermittlungen gegen Sie.
Dieser Roman von Pia Klemp ist Anfang September 2019 erschienen.
Informationen
- Fight for Solidarity: TEDxBerlin 2019 (engl.)
- Tags: #PiaKlemp #Iuventa #SeaWatch
- Pia Klemp im Süddeutsche Magazin
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